serbokroatische Sprache

serbokroatische Sprache
serbokroatische Sprache,
 
deutsche sprachwissenschaftliche Bezeichnung für die Sprache, die in Serbien, Kroatien, Montenegro sowie in Bosnien und Herzegowina gesprochen wird, daneben u. a. (in modifizierter Form) von Kroaten in Südost-Österreich, der Slowakei und Ungarn (burgenländische Kroaten), in Rumänien (rumänischer Banat), in der italienischen Region Molise sowie von Serben in Ungarn und Rumänien. Die serbokroatische Sprache gehört im sprachwissenschaftlichen Sinn mit der slowenischen Sprache zur westlichen Untergruppe der südslawischen Sprachen (slawische Sprachen) und existiert in den regionalen Varianten der serbischen und kroatischen Sprache; eine gegenseitige Verständigung ist jedoch aufgrund der geringen Differenzierungen gegeben.
 
 
und Phonologie: Die Schriftsprache verfügt über ein Phonemsystem von 25 Konsonanten- und sechs Vokalphonemen (einschließlich eines silbischen ṛ). Die Vokale können kurz oder lang sein, der Wortakzent ist frei und beweglich und wird in zwei Tonverlaufsweisen (Intonationen) - steigend oder fallend - realisiert. Dabei gelten folgende Beschränkungen: Vortonsilben sind immer kurz, letzte Silben immer unbetont, nichterste Silben immer steigend, einzige Silben immer fallend intoniert. Diese Intonationen werden nur in Lehr- und Wörterbüchern durch diakritische Zeichen notiert: fallend kurz a, fallend lang ȃ, steigend kurz à, steigend lang á, unbetont kurz a, unbetont lang ā. - Bei den Konsonanten ist die Stimmtonkorrelation am stärksten ausgeprägt, die Palatalitätskorrelation jedoch nur auf einige Paare beschränkt: n - nj, l - lj, t - ć, d - đ. Stimmhafte und stimmlose Konsonanten werden auch im Auslaut unterschieden, sonst findet - mit wenigen Ausnahmen - Stimmtonassimilation statt, die meistens auch orthographisch berücksichtigt wird. Doppelkonsonanz wird in der Regel vereinfacht. Silbenschließendes -l hat -o, silbisches ḷ hat u ergeben.
 
 
Die serbokroatische Sprache verwendet zwei Alphabete: die serbische Variante eine von V. S. Karadžić adaptierte kyrillische Schrift (Kyrilliza), die kroatische Variante eine lateinische Schrift, die nach tschechischem Vorbild durch diakritische Zeichen ergänzt wurde. Die Orthographie beider Systeme folgt dem phonetisch-phonologischen Prinzip, wobei die kyrillische Schrift mit nur einem Buchstaben für jedes Phonem auskommt, während die lateinische Schrift für dž, lj und nj auf Graphemkombinationen angewiesen ist.
 
 
und Syntax: Die nominale Flexion hat drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum), zwei Numeri (Singular, Plural) und sieben Kasus. Die Beseeltheitskategorie, d. h. die Verwendung des Genitivs für den Akkusativ zur Bezeichnung direkter belebter Objekte, findet sich nur im Singular der maskulinen Stämme. Dativ, Instrumental und Lokativ Plural fallen in einer Form zusammen. - Das Adjektiv weist bestimmte, pronominal flektierte und unbestimmte, substantivisch flektierte Formen auf. Pronominaladjektive und -adverbien sind durch eine dreifache Gliederung des Zeigefeldes gekennzeichnet: ovaj »dieser hier«, taj »dieser«, onaj »dieser dort«. - Das Verbalsystem ist durch die Kategorien Aspekt, Modus und Tempus bestimmt. Das Futur wird wie in den anderen Balkansprachen mit dem Hilfszeitwort »wollen« (+ Infinitiv oder Infinitiversatz) gebildet. Aorist und Imperfektiv erfüllen neben der als Präteritum generalisierten Perfektperiphrase (präteritales l-Partizip + Kopula »sein«) nur stilistische Funktion und sind aus der Umgangssprache weitgehend verdrängt. - Die Satzgliedfolge ist bei grundsätzlich freier Wortstellung im Aussagesatz vorwiegend: Subjekt - Prädikat - indirektes Objekt - direktes Objekt.
 
Die Lexik zeigt neben dem slawischen ererbten, einen neologistisch erweiterten Wortbestand mit Lehnwörtern aus der griechischen, türkischen, deutschen, russischen, ungarischen, tschechischen, französischen und italienischen Sprache. Türkische Lehnwörter sind stärker bei den Serben und Muslimen, deutsche und italienische mehr bei den Kroaten verbreitet. In jüngster Zeit dringen Internationalismen und Lehnwörter v. a. aus dem Englischen auf dem gesamten Sprachgebiet vor.
 
Die Dialekte der serbokroatischen Sprache werden in drei Gruppen eingeteilt, die nach der jeweiligen Form des Fragepronomens »was« (što, kaj, ča) benannt sind. Die größte Gruppe ist das Štokavische (Serbien, Bosnien, Herzegowina, Montenegro, Süd- und Ost-Kroatien), das nach dem Innovationsgrad wiederum in die alt- und die neuštokavischen Dialekte unterteilt wird. Letztere zeichnen sich gegenüber den altštokavischen Dialekten durch Akzentzurückziehung um eine Silbe, die Entstehung neuer Intonationen sowie morphologischer Neuerungen aus und liegen der Standardform der serbokroatischen Sprache zugrunde. Die kajkavischen (Zagreb, Nord- und West-Kroatien) und čakavischen (Istrien, Hinterland von Rijeka, Teile des Kvarner und Dalmatiens mit den vorgelagerten Inseln, Burgenland) Dialekte sind durch Archaizität in Phonetik, Akzentuierung und Morphologie geprägt. Das Kajkavische zeigt Gemeinsamkeiten mit dem Slowenischen, das Čakavische ist durch die adriatisch-romanische Nachbarschaft geprägt. Von den štokavischen Dialekten werden häufig noch die Prizren-Timok-Dialekte (auch Torlakisch) ausgesondert, die eine Reihe von Balkanismen aufweisen und so einen Übergang zum Bulgarischen und Makedonischen darstellen. Innerhalb der Hauptgruppen werden die Dialekte noch nach dem Reflex des urslawischen ě als e, (i)je und i in ekavische, (i)jekavische und ikavische Dialekte eingeteilt.
 
 
Die ersten Inschriften in glagolitischer und kyrillischer Schrift stammen aus dem 11.-12. Jahrhundert (kroatische Literatur, serbische Literatur). Bei den Serben entwickelte sich eine religiöse und weltliche Literatur in einer kirchenslawischen Sprache (Kirchenslawisch) serbischer Redaktion, die in den 30er-Jahren des 18. Jahrhunderts durch eine am Russisch-Kirchenslawischen orientierte offizielle Kirchensprache abgelöst wurde. Daneben entwickelte sich aus einer Mischung aus Russisch-Kirchenslawisch und serbischer Volkssprache das so genannte Slawenoserbische. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde mit den Reformen V. S. Karadžićs die Volkssprache zur Schriftsprache erhoben und die Orthographie der gesprochenen Sprache angepasst. - Die Kroaten benutzten im kirchlichen Bereich die glagolitische Schrift bis ins 19. Jahrhundert. Daneben existierten die čakavische Literatursprache Dalmatiens (15.-17. Jahrhundert), die štokavischen Sprache der bedeutenden ragusäischen Literatur (15.-17. Jahrhundert) und eine kajkavische Literatursprache (16.-19. Jahrhundert) in Zagreb und Nord-Kroatien. In den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurde dann im Zuge des Illyrismus v. a. durch L. Gaj der Versuch unternommen, eine einheitliche Literatursprache aller Südslawen zu schaffen. Im Wiener Sprachabkommen 1850 einigten sich Serben und Kroaten auf den neuštokavisch-ijekavischen Dialekt der Ost-Herzegowina als gemeinsame Schriftsprache, die sich jedoch erst allmählich durchsetzte. Seit der Vereinbarung von Novi Sad (1954) sprach man von einer bizentrischen (Belgrad und Zagreb) serbokroatischen/kroatoserbischen Standardsprache in zwei Varianten. In der Verfassung der Sozialistischen Republik Kroatien von 1974 wird nur noch von der kroatischen Literatursprache gesprochen (mit dem Zusatz »Standardsprache der Kroaten und Serben in Kroatien, die Kroatisch oder Serbisch genannt wird«), sodass danach die Bezeichnung »kroatische oder serbische Sprache« beziehungsweise »serbische oder kroatische Sprache« in Gebrauch war. - Die neuen Verfassungen der Republik Kroatien und der Bundesrepublik Jugoslawien bezeichnen ihre jeweilige Amtssprache als kroatische Sprache beziehungsweise als serbische Sprache.
 
 
Wörterbücher:
 
Rječnik hrvatskoga ili srpskoga jezika, hg. v. Đ. Daničić, 23 Bde. (Zagreb 1880-1976);
 
Rečnik srpskohrvatskog književnog i narodnog jezika, bearb. v. A. Belić u. a., auf mehrere Bde. ber. (Belgrad 1959 ff.);
 P. Skok: Etimologijski rječnik hrvatskoga ili srpskoga jezika, 4 Bde. (Zagreb 1971-74);
 V. Karadžić: Srpski rječnik (Neuausg. Belgrad 1972);
 P. Mrazović u. R. Primorac: Dt.-serbokroat. phraseolog. Wb. (ebd. 1981);
 
Hrvatsko-njemački frazeološki rječnik, bearb. v. R. Hansen u. J. Matešič (Zagreb 1988);
 A. Hurm: Njemačko-hrvatski ili srpski rječnik (ebd. 91989);
 V. Anić u. J. Silić: Pravopisni priručnik hrvatskoga ili srpskoga jezika (ebd. 31990);
 V. Anić: Rječnik hrvatskoga jezika (ebd. 1991);
 V. Brodnjak: Razlikovni rječnik srpskog i hrvatskog jezika (ebd. 1991);
 B. Jakić u. A. Hurm: Hrvatsko-njemački rječnik (ebd. 71991).
 
Grammatiken:
 
T. Maretić: Gramatika hrvatskoga ili srpskoga književnog jezika (Zagreb 31963);
 
A. Leskien: Gramm. der serbo-kroat. Sprache (21976);
 
J. Hamm: Gramm. der s. S. (31981);
 
Kontrastive Gramm. dt.-serbokroat., hg. v. U. Engel u. a., 2 Tle. (1986);
 
M. Stevanović: Savremeni srpskohrvatski jezik, 2 Bde. (Belgrad 5-61991);
 
S. Težak u. S. Babić: Gramatika hrvatskoga jezika (Zagreb 101994).
 
 
P. Ivić: Die serbokroat. Dialekte (Den Haag 1958);
 
I. Popović: Gesch. der serbo-kroat. Sprache (1960);
 
A. Belić: Istorija srpskohrvatskog jezika, 2 Bde. (Belgrad 41969);
 
J. Matešić: Der Wortakzent in der serbokroat. Schriftsprache (1970);
 
Bibliogr. von Arbeiten zur linguist. Beschreibung der serbokroat. Gegenwartssprache, bearb. v. G. Jakob (21983);
 
S. Babić: Tvorba riječi u hrvatskom književnom jeziku (Zagreb 1986);
 
R. Katičić: Sintaksa hrvatskoga književnog jezika (ebd. 1986);
 
D. Brozović u. P. Ivić: Jezik srpskohrvatski/hrvatosrpski, hrvatski ili srpski (ebd. 1988);
 
Z. Vince: Putovima hrvatskoga književnoga jezika (ebd. 21990);
 
Povijesni pregled glasovi i oblici hrvatskoga književnog jezika, hg. v. S. Babić u. a. (ebd. 1991).

Universal-Lexikon. 2012.

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